18.09.2020 | Universität Stuttgart | News

Warum Klempner*innen und Lehrer*innen bei DNA-Manipulationen ein Mitspracherecht haben sollten

Forschende fordern globale Bürgerversammlung zu Genom-Editierung

Für die einen verspricht sie die Heilung oder gar Vermeidung schwerster Krankheiten, für die anderen ist sie ein ethisch nicht vertretbarer Menschversuch: Gen-Editierung – die zielgerichtete Veränderung des menschlichen Erbguts – gehört zu den umstrittensten Themen der modernen Medizin. Bisher diskutieren darüber vor allem Expert*innen und Politiker*innen. 25 internationale Wissenschaftler*innen, darunter Prof. André Bächtiger von der Universität Stuttgart, fordern nun in einem Beitrag im Fachmagazin „Science“, Bürger*innen aus der ganzen Welt in die Debatte einzubeziehen. 

Designer-Babys, Frankenstein: Horrorvorstellungen wie diese kommen vielen Menschen in den Sinn, wenn von Genom-Editierung die Rede ist. Die Realität – die DNA eines Organismus so zu manipulieren, dass die Veränderung an die nächsten Generationen vererbt werden kann – ist weniger dramatisch, dafür aber hochkomplex. „Die Auswirkungen der Genom-Editierung sind so gravierend, dass man die Diskussion darüber nicht alleine Ärzt*innen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen überlassen sollte“, erläutert Prof. André Bächtiger, Leiter der Abteilung für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart und Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS), der als einziger Deutscher an dem Beitrag mitgewirkt hat. Stattdessen schlagen die Autor*innen eine globale Bürger*innenversammlung mit 100 Teilnehmenden aus aller Welt vor. Diese soll die Diversität der Perspektiven zu Genom-Editierung repräsentieren, in einen konstruktiven Dialog treten und Empfehlungen für die Regulierung dieser Technologie ausarbeiten. 
 

Verständnis für andere Sichtweisen und kreative Empfehlungen

Nun könnte man einwenden, dass solche dialogischen Prozesse gerade bei einem Thema wie der Genom-Editierung die Bürger*innen überfordern. Dies lässt sich jedoch vermeiden, wenn man Bürgerversammlungen gut strukturiert. Hierzu sollten die Teilnehmenden mit ausgewogenen Informationen versorgt werden, Expert*innen und „stakeholders“ befragen können und eine Moderation sicherstellen, dass sich alle Teilnehmenden in die Diskussion einbringen können. „Wie die Erfahrungen bei früheren transnationalen Bürgerversammlungen etwa zur Migrationspolitik oder zum Klimawandel zeigen, sind solche dialogischen Formate in der Lage, trotz kontroverser Positionen der Teilnehmenden Verständnis für andere Sichtweise zu wecken und kreative Empfehlungen auszuarbeiten“, berichtet Bächtiger. „Das gilt selbst dann, wenn kein Konsens über unterschiedliche Werte und Sichtweisen entsteht.“ Zudem seien normale Bürger*innen im Gegensatz zu offiziellen Organisationen wie etwa die UNO-Vollversammlung keinen Zwängen der Repräsentation oder des Machterhalts ausgesetzt und können sich deshalb einfacher auf gute Argumente und andere Sichtweisen einlassen. 
 

Resonanz auch in internationale Organisationen und Öffentlichkeit

Die Forschenden haben die Hoffnung, dass eine globale Bürgerversammlung zur Genom-Editierung nicht nur konstruktive Diskussionen bei den Teilnehmenden auslöst, sondern auch bei internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) sowie in der globalen Öffentlichkeit Resonanz erzeugt. Dies soll durch intensive mediale Begleitung und Dokumentation geschehen. 
 

Analysen im neuen ZIRIUS Participation and Deliberation Lab

Die inhaltlichen Analysen zur Diskussionsqualität sowie deren Effekt in der globalen Bürgerversammlung wird das neue, von Prof. Bächtiger geleitete ZIRIUS Participation and Deliberation Lab an der Universität Stuttgart durchführen, eine Plattform für innovative Forschung zu politischer Kommunikation, Reflektion und Bürgerbeteiligung. Dabei kommen auch neue computerlinguistische Techniken zum Zug. Diese werden derzeit im Rahmen des Projekts „Optimale Kommunikation. Experimentalforschung in Kombination mit Simulation und Computerlinguistik“ im Kontext des Terra-Incognita-Programms der Universität Stuttgart erforscht und erprobt. Beteiligt sind Prof. André Bächtiger (Leitung), Prof. Sebastian Pado und Prof. Jonas Kuhn (Institut für Maschinelle Sprachverarbeitung), Prof. Raphael Heiberger (Institut für Sozialwissenschaften/ Abt. Computational Social Science) sowie Prof. Gregor Betz (KIT). Die Wissenschaftler haben das Ziel, die Erforschung von Diskussionsqualität und deren Effekte auf Meinungsbildung zu systematisieren und gleichzeitig neue und vielversprechende Designs von Bürgerversammlungen zu entwickeln.

Weitere Informationen

Kontakt:
 

Fachlicher Kontakt:

Prof. André Bächtiger
Universität Stuttgart
Institut für Sozialwissenschaften
Abt. für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung
Tel.: +49 (0)711/685 81450
andre.baechtiger@sowi.uni-stuttgart.de
 

Medienkontakt:

Andrea Mayer-Grenu
Wissenschaftsreferentin, Forschungspublikationen
Tel.: +49 711 685-8217
andrea.mayer-grenu@hkom.uni-stuttgart.de

https://www.uni-stuttgart.de/

Publikation:
John S. Dryzek, D. Nicol, S. Niemeyer, S. Pemberton, N. Curato, A. Bächtiger, P. Batterham, B. Bedsted, S. Burall, M. Burgess, G. Burgio, Y. Castelfranchi, H. Chneiweiss, G. Church, M. Crossley, J. de Vries, M. Farooque, M. Hammond, B. He, R. Mendonça, J. Merchant, A. Middleton, J. Rasko, I. Van Hoyweghen, A. Vergne (2020): Global citizen deliberation on genome editing. Global governance can be informed by a deliberative assembly composed of lay citizens. Science. https://science.sciencemag.org/cgi/doi/10.1126/science.abb5931
Quelle:
https://www.uni-stuttgart.de/universitaet/aktuelles/presseinfo/Warum-Klempnerinnen-und-Lehrerinnen-bei-DNA-Manipulationen-ein-Mitspracherecht-haben-sollten/