26.04.2024 | Universitätsklinikum Tübingen | News

Thalassämie ist jetzt mit Gentherapie behandelbar

Leben ohne Bluttransfusionen durch weltweit erste erfolgreiche Gentherapie mit der Genschere CRISPR/Cas9 
Thalassämie-Erkrankte haben trotz verschiedener Therapieformen eine deutlich reduzierte Lebenserwartung. Bislang standen in der Behandlung nur lebenslange Bluttransfusionen zur Verfügung, die oft mit einem Überschuss an Eisen im Körper und einer daraus folgenden Zerstörung der Organe einhergehen. Auch eine Stammzelltransplantation kommt infrage, allerdings können nicht für jede Patientin und jeden Patienten geeignete Spenderzellen gefunden werden. Die in Tübingen mitentwickelte und weltweit erste erfolgreiche Thalassämie-Gentherapie mit der Genschere CRISPR/Cas9 ist eine Möglichkeit, Betroffenen ein weitgehend normales Leben ohne diese Erkrankung zu ermöglichen. Weit mehr als 90 Prozent der Teilnehmenden (12-35 Jahre) können seit mehr als 12 Monaten ohne Transfusionen leben. Die Gentherapie ist bereits von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) für Patientinnen und Patienten ab 12 Jahren zugelassen.

 

Dass der Körper von Eleni C. zu wenig Hämoglobin bildet, wurde im Alter von einem Jahr festgestellt. Seitdem beeinflusst die Diagnose ß-Thalassämie ihr ganzes Leben. Alle vier Wochen musste sie in die Tübinger Kinderklinik kommen, damit Hämoglobin zugeführt werden konnte. Seit 2021 ist damit Schluss. Die junge Frau durfte als eine von 52 Kindern und jungen Erwachsenen an einer der weltweit ersten Studien teilnehmen, in der Thalassämie-Erkrankte mit einer Gentherapie behandelt wurden. Seit mehreren Jahren ist das klinikeigene Labor für Gentherapie unter Leitung von PD Dr. Dr. Markus Mezger an der Erforschung der Therapie beteiligt. Nun konnten gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 15 Kliniken in den USA und Europa, darunter neben Tübingen auch die Universitätskliniken Düsseldorf und Regensburg, Zulassungsstudien durchgeführt werden. Die Ergebnisse wurden aktuell im New England Journal of Medicine veröffentlicht. „Die Gentherapie ist ein fantastisches Beispiel dafür, dass Gentherapien wirksam sind und im klinischen Alltag angewendet werden können“, betont Prof. Dr. Peter Lang, der die Stammzelltransplantationen in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin leitet. Seit 20 Jahren behandelt er Patientinnen und Patienten mit Thalassämie.

Die Therapie kann zwischen wenigen Monaten bis zu einem Jahr dauern. Dazu werden zunächst Stammzellen aus dem Blut entnommen. Die Gentherapie des auf schwere Krankheiten spezialisierten Biotechnologieunternehmens Vertex verändert die blutbildenden Stammzellen der Betroffenen mit der Genschere CRISPR/Cas9 so, dass diese wieder das funktionsfähige Hämoglobin des frühen Kindesalters (fetales Hämoglobin) bilden, das keine Schäden trägt. Dadurch können die Patientinnen und Patienten wieder ohne Bluttransfusionen leben. Danach werden die Erkrankten mit einer Chemotherapie behandelt, die das eigene Knochenmark auslöscht. Im Anschluss werden die genmodifizierten Stammzellen transplantiert, aus denen dann die Blutbildung erneut wieder entsteht. Die Therapie von Eleni C. liegt mittlerweile drei Jahre zurück. Alle drei Monate kommt sie für Kontrollen in die Kinderklinik – die Blutbildung funktioniert einwandfrei.

 

Auch für Sichelzellkrankheit geeignet

Ersetzen soll die Gentherapie die Stammzelltransplantation von gesunden Spenderinnen und Spendern nicht grundsätzlich. „Die Therapie ist vielmehr eine Chance für Erkrankte, für die kein Spender gefunden werden kann oder die aus anderen Gründen keine fremden Stammzellen bekommen können“, erklärt der Thalassämie-Spezialist Lang. Wenn die Auswirkungen der ß-Thalassämie schon zu weit fortgeschritten sind, ist die Genveränderung ebenso ein neuer Behandlungsansatz. Nicht nur für die verschiedenen Formen der Thalassämie ist die Therapie entwickelt worden. Auch für die Sichelzellkrankheit, die wie die Thalassämie zu den Hämoglobinopathien zählt, ist sie geeignet. Die Publikation zur Gentherapie, an dem die Tübinger Universitätsklinik beteiligt ist, nimmt allerdings speziell die Wirksamkeit bei Thalassämie in den Blick.

 

Mehr Thalassämie-Betroffene in Mitteleuropa

Die Hämoglobinopathien, zu denen die Thalassämie-Varianten und die Sichelzellkrankheit zählen, sind mit sieben Prozent der Weltbevölkerung als Anlageträger die weltweit häufigsten monogenen Erbkrankheiten. Bei Thalassämie haben die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) aufgrund eines Hämoglobindefekts eine geringere Funktionsfähigkeit und eine kürzere Lebensdauer, zudem werden sie in geringerer Zahl gebildet als bei gesunden Menschen. Die Folge ist eine Blutarmut, sodass der Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann. Unbehandelt kommt es bei Patientinnen und Patienten zu einer massiven Leber- und Milzvergrößerung, zur Veränderung der Knochenmarksräume und zu Fehlbildungen am Skelettsystem. Ohne eine adäquate Therapie sterben diese Kinder bis zum fünften Lebensjahr. Thalassämie kommt vor allem in den Mittelmeerländern, in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, auf dem indischen Subkontinent, in Südostasien und in Afrika vor. In Mitteleuropa ist die Zahl von Patienten und Anlageträgerinnen in den letzten Jahrzehnten durch Migration erheblich gestiegen. Schätzungen zufolge leben in Deutschland derzeit etwa 600 Personen mit der schweren Form der ß-Thalassämie (Thalassämia major) und etwa 160.000 Menschen mit Thalassämia minor.

Weitere Informationen

Experte:
Prof. Dr. Peter Lang

Stellvertretender Ärztlicher Direktor
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Abteilung I - Abteilung für Hämatologie, Onkologie, Gastroenterologie, Nephrologie, Rheumatologie
Bereichsleiter Stammzelltransplantation

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Publikation:
Franco Locatelli, Peter Lang, Donna Wall, Roland Meisel, Selim Corbacioglu, Rupert Handgretinger et al. Exagamglogene Autotemcel for Transfusion-Dependent β-Thalassemia https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2309676?query=TOC&cid=NEJM%20eToc,%20April%2023,%202024%20DM2337624_NEJM_Non_Subscriber&bid=-2050451145 DOI: 10.1056/NEJMoa2309676
Quelle:
https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/pressemeldungen/639