Künstliche Flimmerhärchen geben Aufschluss darüber, welches Bewegungsmuster einen maximalen Flüssigkeitsstrom erzeugt
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme entwickeln künstliche Flimmerhärchen, die so programmiert werden können, dass sie sich in Wellen bewegen. In Experimenten zeigen sie, wie die millimeterkleinen Zilien viskose Flüssigkeiten genauso effektiv pumpen können wie ihr natürliches Vorbild. Ihre Forschung trägt dazu bei, das Geheimnis zu lüften, welches Bewegungsmuster einen maximalen Flüssigkeitsstrom erzeugt. Die in Science Advances veröffentlichten Ergebnisse tragen zu einem besseren Verständnis der Biomechanik echter Zilien bei und helfen bei der Entwicklung millimeterkleiner Roboter, die Flüssigkeiten pumpen und so eines Tages im menschlichen Körper eingesetzt werden können.
Stuttgart – Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme (MPI-IS) haben millimeterkleine magnetisch geladene Zilien entwickelt, die viskose Flüssigkeiten genauso effektiv pumpen können wie echte Flimmerhärchen, die in der Natur weit verbreitet sind. Ihr Forschungsprojekt "Bioinspired cilia arrays with programmable nonreciprocal motion and metachronal coordination" wurde im Fachjournal Science Advances veröffentlicht. Die Autoren Dr. Xiaoguang Dong, Dr. Wenqi Hu, Ziyu Ren und Prof. Dr. Metin Sitti sind Mitglieder der Abteilung für Physische Intelligenz am MPI-IS, deren Direktor Sitti ist.
Zilien sind haarähnliche Strukturen, die zum Beispiel in den Atemwegen vorkommen. Dort liegen sie wie ein Teppich auf der Schleimhaut. Durch die Zilienbewegung wird Schleim und an ihm haftende, unerwünschte Substanzen aus den Atemwegen befördert. Ähnliche Flimmerhärchen kommen auch in den Eileitern vor, die Eizellen in Richtung der Gebärmutter transportieren. Auch Korallen haben Zilien – dünne gemeinschaftlich schlagende Geißelhaare, die Wasser aufwirbeln und so Nährstoffe und Sauerstoff anschwemmen.
Der Roboter, den die Wissenschaftler nun entwickelt haben, ähnelt echten Flimmerhärchen sehr. Der einzige Unterschied ist die Größe: Jedes Replikat einer Zilie ist knapp einen Millimeter lang. Das ist hundertmal grösser als ein natürliches Flimmerhärchen, wie es zum Beispiel in einer Lunge vorkommt.
Die Wissenschaftler bauten die künstlichen Flimmerhärchen aus einem Elastomer, einem gummiähnlichen Kunststoff, in den sie magnetisch geladene Partikel in einem ganz bestimmten Muster einbetteten. So wird jedes Härchen programmierbar: Die Forscher können nicht nur die Bewegung jedes einzelnen Flimmerhärchens fernsteuern, sondern auch die koordinierte Bewegung aller Flimmerhärchen im Zusammenspiel mit ihren Nachbarn.
Die Forscher schalteten ein rotierendes externes Magnetfeld an und zeigten, dass ihre künstlichen Flimmerhärchen eine wellenförmige Bewegung ausführten, die echten Flimmerhärchen sehr ähnelte (Abbildung 1). Sie verwendeten einen roten Farbstoff und zeigten mit Hilfe eines bildgebenden Verfahrens, wie die Härchen eine viskose Flüssigkeit (Glyzerin) entlangpumpen und Partikel dank der optimal koordinierten Bewegung der Härchen effizient transportieren (Abbildung 2).
Die Forscher zeichneten die peitschenartig schlagende Bewegung der künstlichen Geißelhaare mit einer Hochgeschwindigkeitskamera auf, wie in diesem Video zu sehen ist. Der Clip zeigt, wie sich die schlanken Strukturen koordiniert bewegen, ähnlich wie echte Flimmerhärchen: Die künstlichen Konstrukte bewegen sich weder synchron noch zufällig hin und her. Vielmehr führen sie eine koordinierte wellenartige Bewegung aus, die einer La-Ola-Wanderwelle ähnelt. Mehrere wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass diese sogenannte metachronale Welle – Zilien, die einzeln in einem Muster geschlagen – im Laufe der Evolution perfektioniert wurde: Sie erzeugt einen optimalen Flüssigkeitsstrom.
Die Erforschung natürlicher Flimmerhärchen und ihres kollektiven Verhaltens ist eine herausfordernde Aufgabe, da echte Zilien oft nur wenige Mikrometer klein sind. Selbst mit einem Mikroskop sind Flimmerhärchen nur sehr schwer zu sehen. Zudem ist es unmöglich, ihre Bewegung zu kontrollieren. Indem sie Zilien künstlich nachbildeten, gelang es den Stuttgarter Wissenschaftlern nun aber, den grundlegenden quantitativen Zusammenhang zwischen der metachronalen Koordination und dem damit ausgelösten Flüssigkeitsstrom experimentell aufzuzeigen.
„Mit unserem künstlichen System können wir die Flimmerhärchen-Bewegung ähnlich wie echte Flimmerhärchen in einem größeren Maßstab nachahmen, wobei immer die gleichen physikalischen Gesetze gelten. Auf diese Weise können wir viele verwertbare Daten erzeugen. Wir können quantifizieren, welche Bewegungsmuster einen maximalen Flüssigkeitsstrom erzeugen“, sagt Xiaoguang Dong.
In mehreren Experimenten zeigte das Team, dass nur antiplektische metachronale Wellen den Flüssigkeitsstrom verbessern können. Antiplektisch bedeutet, dass die Wellenausbreitungsrichtung entgegengesetzt zu der des Flüssigkeitsstroms ist. „Unsere Beobachtung beweist die kritische Funktion der antiplektischen metachronalen Wellen und enthüllt die grundlegende quantitative Beziehung zwischen der metachronalen Koordination und dem induzierten Flüssigkeitsstrom sowohl in künstlichen als auch in natürlichen Flimmerhärchen“, sagt Ziyu Ren.
Das Team ist davon überzeugt, dass ihr Forschungsprojekt weitere Forschung inspirieren wird: „Unsere künstlichen Flimmerhärchen könnten für die weitere Untersuchung vieler interessanter wissenschaftlicher Fragen genutzt werden, z.B. wie sich die Strömungsmuster der Flüssigkeit ändern, wenn die Dynamik der Flimmerhärchen, die Geometrie der Ränder oder die Art der umgebenden Flüssigkeit variiert wird“, sagt Wenqi Hu.
„Mein Team, die Abteilung für Physische Intelligenz, lässt sich von verschiedenen biologischen Systemen inspirieren. Wir wollen die zugrundeliegenden physikalischen Prinzipien ihrer Fortbewegung, Intelligenz und ihrer Verhaltensweisen erforschen und dann dieses Wissen nutzen, um hochmoderne Miniaturroboter zu entwickeln. Auf diese Weise wollen wir nicht nur die biologischen Systeme besser verstehen: In Zukunft wollen wir unsere Roboter auch als innovative kabellose medizinische Geräte einsetzen, um die Medizin voranzubringen und so zum Wohlergehen unserer Gesellschaft beizutragen“, sagt Sitti.
Weitere Informationen
Kontakt:
Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme
Max-Planck-Ring 4
72076 Tübingen
Heisenbergstr. 3
70569 Stuttgart
Xiaoguang Dong
Postdoctoral Researcher
Physische Intelligenz
dong@is.mpg.de
The full scientific paper can be found here: https://advances.sciencemag.org/content/6/45/eabc9323.full
http://www.is.mpg.de/de/news/bioinspired-cilia-help-understand-which-movement-pattern-generates-maximal-fluid-flows