Ein Antibiotikum auf Zeitreise

Forschungsteam der Universität Tübingen dreht die Evolution einer bakterientötenden Stoffklasse mithilfe von Computertechnik zurück – Erkenntnisse für die Entwicklung neuer Medikamente

Ermittlung eines Stammbaums

„Antibiotika sind ursprünglich vor allem die Produkte einer stetigen evolutionären Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Organismen, die jeweils versuchen, ihre Konkurrenten oder Gegner zu vernichten oder zumindest an der Ausbreitung zu hindern“, erklärt Evi Stegmann. In seiner Studie hat das Forschungsteam Teicoplanin und Vancomycin sowie eine Reihe von ähnlich strukturierten Antibiotika als Ausgangsstoffe herangezogen. Die Naturstoffe können jeweils aus bestimmten Bakterienstämmen isoliert werden. Wie der Name Glykopeptid-Antibiotika beschreibt, bestehen sie chemisch gesehen aus Aminosäuren und Zuckern. Sie lassen Bakterien absterben, indem sie deren Zellwandaufbau verhindern. In dieser Weise wirken Teicoplanin und Vancomycin auch gegen zahlreiche Krankheitserreger des Menschen.

In biologischen Verwandtschaftsanalysen werden meist verschiedene Arten in eine Baumstruktur gestellt, in der die Verzweigungen Auskunft über den Verwandtschaftsgrad geben. „Wir haben in ganz ähnlicher Weise die bekannten Glykopeptid-Antibiotika mit ihrer chemischen Struktur, kodiert über die Gencluster, die ihre Baupläne enthalten, in einen solchen Abstammungsbaum gesetzt“, sagt Ziemert. „Über Computeralgorithmen aus der Bioinformatik lässt sich sozusagen am Stamm des Baumes eine mutmaßliche Urform der Antibiotika errechnen.“ Diesen hypothetischen Vorläufer tauften sie Paleomycin. Das Forschungsteam baute die ermittelten Gene zusammen, welche die Biosynthese von Paleomycin bereits kodiert haben dürften, und ließ ein Bakterium den entsprechenden Stoff produzieren – tatsächlich hatte Paleomycin im Test antibiotische Wirkung. „Es war sehr aufregend, ein solch uraltes Molekül zu erschaffen, als würde man einen Dinosaurier oder ein Wollhaarmammut wieder zum Leben erwecken“, berichtet die Forscherin.

Vereinfachung der Struktur

„Als Ergebnis ist für uns zum einen interessant, dass nach den Berechnungen alle Glykopeptid-Antibiotika von einem einzelnen Vorläufer abstammen“, sagt Stegmann. „Zum anderen ergab sich, dass Paleomycin im Kern des Moleküls eine ähnlich komplexe Peptidstruktur aufweist wie Teicoplanin.“ Bei Vancomycin sei diese Kernstruktur demgegenüber vereinfacht. „Wir gehen davon aus, dass sich diese Vereinfachung erst in der jüngeren Evolution ergeben hat. Die Funktionsweise als Antibiotikum blieb jedoch mit dem gleichen Mechanismus erhalten“, sagt Ziemert. „Für die Bakterien, die solche Antibiotika bilden, können diese sehr nützlich sein. Doch handelt es sich um Stoffe mit einer aufwendigen chemischen Struktur, die das Bakterium viel Energie kosten. Eine Vereinfachung bei gleicher Funktion könnte einen evolutionären Vorteil bieten.“

Weitere Informationen

Kontakt:
Universität Tübingen 
Interfakultäres Institut für Mikrobiologie und Infektionsmedizin
Exzellenzcluster Kontrolle von Mikroorganismen zur Bekämpfung von Infektionen

Prof. Dr. Nadine Ziemert
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nadine.ziemert@uni-tuebingen.de  

Prof. Dr. Evi Stegmann
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Pressekontakt:
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karl.rijkhoek@uni-tuebingen.de
janna.eberhardt@uni-tuebingen.de

Publikation:
Mathias Hansen, Martina Adamek, Dumitrita Iftime, Daniel Petras, Frauke Schuseil, Stephanie Grond, Evi Stegmann, Max Cryle and Nadine Ziemert: Resurrecting Ancestral Antibiotics: Unveiling the Origins of Modern Lipid II Targeting Glycopeptides. Nature Communications, https://doi.org/10.1038/s41467-023-43451-4
Quelle:
https://uni-tuebingen.de/universitaet/aktuelles-und-publikationen/pressemitteilungen/newsfullview-pressemitteilungen/article/ein-antibiotikum-auf-zeitreise/